Die Distinktionsmaschine

Ich habe in den 1970ern ein Leben in der Kunst aus sehr romantischen Gründen angestrebt. Dabei waren zwei Aspekte dominant. Die tiefgehende Befassung mit Dingen jenseits der Alltagsbewältigung als Ausdruck eines geistigen und emotionalen Lebens sowie eine möglichst selbstbestimmte Existenz.

Nun, rückblickend, fast 50 Jahre später, läßt sich sagen: so ist es! Genau darum geht es. Mir zumindest. Aber ich hatte vieles nicht bedacht und nicht bedenken können, denn wo ich herkam, wurde davon nichts gewußt. Da konnten man mir bloß mit Sorgenfalten im Gesicht sagen: „So geht das nicht! Du wirst stranden.“

Ich hatte damals vor allem keinen Tau, daß der Kulturbetrieb ein Distinktionsmaschine ist und Kunstwerke bloß die Manövriermasse sind, der Anlaß und Vorwand, um diesen Teil des Betriebes in Betrieb zu halten. Im günstigsten Fall wird jemand auch Kunstsinn entwickelt haben, um als Maschinist des eigenen Ranges voranzukommen. Andere bewirtschaften das Terrain lieblos und bleiben uns Kunstschaffenden gegenüber so zynisch wie herablassend. Dazwischen habe ich allerhand Nuancen gesehen.

Ein Gipfelpunkt der Niedertracht war diese Corona-Pose, zu appellieren, Kunst und Kultur seien „systemrelevant“. Das spottet dem Umstand, daß sich symbolisches Denken schon in Kunstpraxis ausgedrückt hat, da gab es all die Systeme noch gar nicht, für die hier jemand relevant sein möchte. Die menschliche Fähigkeit Dinge zu denken, die es nicht gibt, Phantasie, das Planen, Problemlösungskompetenzen, all das war vor dem „System“ da, dem sich manche 2020 andienen wollten.

Ich erinnere mich freilich an keine Kraft der Kulturpolitik, die uns in dieser Sache sachkundig zur Seite gestanden wäre, um derlei Zusammenhänge zu klären. Dazu ein kleiner Exkurs in die Vergangenheit.

Das Erbe der Borgias
Denken Sie, man konnte als geschäftstüchtiger Unternehmer Ende des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich reüssieren, wenn einem Kunst Schnuppe war und Kultur ein Fremdwort? Ich glaube das nicht. Schon der alte Adel und der hohe Klerus hatte ihre noble Distanz zum Pöbel durch zweierlei ausgedrückt: demonstratives Verbrennen von Geld (Konsum von Luxusgütern) und Kunstsinn; oder wenigstens Wow-Effekte dank erlesener Auftragsarbeiten, notfalls durch Berater bestimmt. Das aufstrebende Großbürgertum orientierte sich an solchen Kräftespielen.

Europas Kulturgeschichte kennt zum Beispiel in Cesare Borgia den exemplarisch skrupellosen Machtmenschen, der zugleich ein hochkarätiger Kunstkenner und Kunstliebhaber, ein gefragter Konsulent in Kunstfragen war. Es gilt ja bis heute: Wenn jemand dank enormer Geldsummen in seinen Händen keine weiteren Häuser und Palais, keine zusätzlichen Hochpreis-Automobile und Rennpferde, keine übrigen Yachten mehr brauchen kann, um ein soziokulturelles Statement abzugeben und sich gegenüber anderen Leuten hervorzutun, was bleibt dann?

Man investiert in Kunst, mehrt sein Prestige und hat eine passable Anlageform. Kunstwerke können freilich alle kaufen, wenn sie entsprechend flüssig sind. Kunstsinn kann man dagegen nicht kaufen, den muß man erwerben; wie auch die Netzwerke aufbauen, die einem Zugriff auf Top-Raritäten ermöglichen. Verstehen Sie den Kniff an der Sache?

Hier ist der Kategoriensprung möglich. Als Milliardär kannst du den superreichen Schnösel bestenfalls auf symbolischer Ebene übertrumpfen, also nicht mit Geldsummen, sondern mit symbolischen Werten. Manieren, Lebensstil, Kunstsinn, adäquate Kontakte… Und in der Sparvariante gehört das zu den Grundlagen steirischer Kulturpolitik.

— [Hart am Wind: Die Übersicht] —

Autor: Franz Blauensteiner

Kulturarbeiter - Theatermacher - übüKULTUR Hackler Vater Übü, alias Franz Blauensteiner Artdirektor und Theatermacher "Scheitern gehört zum Programm." Vom analogen Bühnenstück zum Low Budget Wild Style Movie in Episoden – dem Theaterfilm. übüFamily: übüDigital-übüFilm und übüLive | Digitale Kunstvermittlung: Theater im Internet und LiveActs Im 25. Jahr werkraumtheater, Neustart mit dem Brand die übüFamily: Im Pandemiejahr 2020 musste das Grazer werkraumtheater studio in der Glacisstraße 61A leider schließen. Aber dieÜbüs orientierten sich nach 25 Jahren Kulturschaffen neu und wagten sich an das „Unmögliche“, denn: Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better (Samuel Beckett) Doch jedes Ende hat auch einen Anfang. Man erfindet sich neu bzw. startet mit einem neuen Format durch, der übüFamily. Das Grazer werkraumtheater wurde im Jahr 1995 von Franz Blauensteiner und Rezka Kanzian gegründet und belebte erfolgreich die Freie Szene abseits der Norm. Was ursprünglich als Alternative zu den konventionellen städtischen Theatern ins Leben gerufen wurde, gilt heute, 25 Jahre später, als eigene Marke und steht für ausdrucksstarke Theaterkunst, die eben nicht (nur) unterhalten will, sondern auch berühren soll. Jedes einzelne Stück kennzeichnet eine mehr oder weniger starke, aber konstante Durchzogenheit von Tradition und Geschichte, welche uns etwa berühren mag, teils vielleicht auch unangenehm ist oder gar (un)ästhetisch wirkt. Gerade diese Reichhaltigkeit und Tiefsinnigkeit sind es, welche die Stücke und Projekte des werkraumtheaters so einzigartig machen. – Weg von der Norm und den Vorgaben, die uns die Gesellschaft ein-indoktriniert, hin zur Freiheit und Individualität und schließlich hin zur „freien Kunst“.