Josephinismus 2.0?

Seit man in Europa begonnen hatte, Recht zu kodifizieren (Stichwort: Römisches Recht), ringen unsere Leute um eine spezielle Abstraktionsleistung. Ich habe private Bindungen, habe verwandtschaftliche Beziehungen, kann einem beschreibbaren Clan zugerechnet werden. Vielleicht verstehe ich mich sogar als Teil einer Dorfgemeinschaft oder wenigstens eines Grätzels, eines Bezirks im urbanen Raum.

Aber diesen Bindungen steht noch ein anderes Konzept gegenüber: vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Wir sind alle Bürgerinnen und Bürger, vorzugsweise eines Staates, besser nicht staatenlos. Bürgerrechte sind bei uns an die Staatsbürgerschaft gebunden, letztlich aber seit jeher die Menschenrechte auch.

Drehen Sie es, wie sie wollen, Menschenrechte kann jemand ohne Staatsbürgerschaft so gut wie gar nicht durchsetzen. Das zeigt Europa zum Beispiel gerade wieder in einigen griechischen Momenten. Die Bürgerin. Der Bürger. Eine politische Kategorie, die eine prinzipielle Gleichheit der Menschen in den Kontrast zu allen anderen Arten von Bindungen stellt.

Der Staat ist – politisch gesehen – ein Ordnungssystem, dessen Personal zwar sicher nicht ganz ohne Selbstzweck auskommt, so puristisch sind menschliche Gemeinschaften kaum, aber wesentlich sollte dieses Personal den Staatsbürgerinnen und -bürgern deutlich mehr zuarbeiten als den eigenen Institutionen. (Einen so plüschigen Begriff wie „Staatsdiener“ will ich gar nicht erst strapazieren.)

Ich denke aktuell gerade darüber nach, ob wir erneut zum Josephinismus neigen: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk!“ Reformen nur von oben. Und so gut es geht noble Distanz zum Pöbel. Das passende Bonmot dazu stammt aus der Welt der Unterhaltungsliteratur: Der Sklave träumt nicht davon frei zu sein, sondern Herr zu sein.

Da habe wir also einige Arbeit vor uns, denn mir scheint, a) Politik und Verwaltung sowie b) Zivilgesellschaft sind längst wieder in zwei verschiedene Sphären auseinandergefallen. Das ergibt eine politisch brisante Situation, zu der ein anderes Bonmot paßt: Das Einzige, was stört, sind die Bürgerinnen und Bürger. (Das wäre dann Josephinismus 2.0.)

— [Hart am Wind: Die Übersicht] —

Autor: Franz Blauensteiner

Kulturarbeiter - Theatermacher - übüKULTUR Hackler Vater Übü, alias Franz Blauensteiner Artdirektor und Theatermacher "Scheitern gehört zum Programm." Vom analogen Bühnenstück zum Low Budget Wild Style Movie in Episoden – dem Theaterfilm. übüFamily: übüDigital-übüFilm und übüLive | Digitale Kunstvermittlung: Theater im Internet und LiveActs Im 25. Jahr werkraumtheater, Neustart mit dem Brand die übüFamily: Im Pandemiejahr 2020 musste das Grazer werkraumtheater studio in der Glacisstraße 61A leider schließen. Aber dieÜbüs orientierten sich nach 25 Jahren Kulturschaffen neu und wagten sich an das „Unmögliche“, denn: Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better (Samuel Beckett) Doch jedes Ende hat auch einen Anfang. Man erfindet sich neu bzw. startet mit einem neuen Format durch, der übüFamily. Das Grazer werkraumtheater wurde im Jahr 1995 von Franz Blauensteiner und Rezka Kanzian gegründet und belebte erfolgreich die Freie Szene abseits der Norm. Was ursprünglich als Alternative zu den konventionellen städtischen Theatern ins Leben gerufen wurde, gilt heute, 25 Jahre später, als eigene Marke und steht für ausdrucksstarke Theaterkunst, die eben nicht (nur) unterhalten will, sondern auch berühren soll. Jedes einzelne Stück kennzeichnet eine mehr oder weniger starke, aber konstante Durchzogenheit von Tradition und Geschichte, welche uns etwa berühren mag, teils vielleicht auch unangenehm ist oder gar (un)ästhetisch wirkt. Gerade diese Reichhaltigkeit und Tiefsinnigkeit sind es, welche die Stücke und Projekte des werkraumtheaters so einzigartig machen. – Weg von der Norm und den Vorgaben, die uns die Gesellschaft ein-indoktriniert, hin zur Freiheit und Individualität und schließlich hin zur „freien Kunst“.